Die Karwoche: Das Geheimnis von Leiden und Auferstehen

Die Karwoche: Das Geheimnis von Leiden und Auferstehen

Elie Wiesel, Nobelpreis-Träger und KZ-Überlebender, beschreibt in seinem Buch Nacht, wie ein junger Mann, eigentlich noch ein Kind, mit zwei anderen Erwachsenen von der SS gehängt wurde. Dieses grausame Geschehen mussten sich tausende andere Gefangene ansehen, unter ihnen Elie Wiesel. Das Kind hatte das Gesicht eines ‘traurig blickenden Engels’. Er sagte nichts, sein Gesicht war blassgrau, er wirkte ruhig, als er die Stufen zum Galgen hoch schritt. Wiesel hörte hinter sich einen Gefangenen fragen: „Wo ist Gott jetzt? Wo ist er?“ Über eine halbe Stunde dauerte es, bis der Junge starb, und alle Gefangenen wurden gezwungen, ihn anzublicken. Dersel­be Mann fragte noch einmal: „Wo ist Gott jetzt?“ Und Wiesel hörte in seinem Inneren eine Stimme, die die Antwort gab: „Wo er ist? Er ist hier – er hängt hier am Galgen.“

Mit der Feier des Palmsonntags fängt die heiligste Zeit des Kirchenjahres an: Die Karwo­che, die Heilige Woche. Diese acht Tage laden uns ein, die letzten Tage im Leben Jesu mitzugehen. Wir sind eingeladen, die verschiedenen Gefühlszustände mitzuerleben, durch die Jesus hindurch ging. Indem wir diese Momente durchleben, können wir das tiefe Ge­heimnis der großen Paradoxien unseres eigenen menschlichen Lebens meditieren: Aner­kennung und Verrat, Vertrautheit und Einsamkeit, Willensstärke und Schwäche des Flei­sches, Trost und Schmerz, Unterstützung und Leid, Tod und Auferstehen. Wir besinnen uns nicht nur auf historische Ereignisse. Es geht um archetypische Erfahrungen, die exis­tentielle Bedeutung für unsere Leben haben – hier und jetzt.

Zusammenfassend möchte ich über meine heutigen Reflexionen sagen, dass sie von zwei Themen und von einer dahinter stehenden Frage handeln. Die zwei Themen sind: Tod und Auferstehen; Leiden und Ganzheit; unsere menschliche Begrenztheit und die Hoff­nung der Transzendenz. Die Frage lautet: Wo ist Gott in all dem? Wie ist Gott? Wo ist er?

Unsere heutige Kultur mit ihren Möglichkeiten, Lebensqualität zu steigern, verlockt uns fälschlicherweise dazu, Krankheit, Schmerz, Altwerden und Tod auszublenden. Es ist nicht so, dass Leiden und Sterben sinnvolle Ziele in sich selbst seien. Aber das Leugnen dieser menschlichen Grundbedingungen bringt unsere innere Weisheit dazu, Fragen zu stellen. Die gegenwärtige kapitalistische Marktwirtschaft vertritt die Überzeugung, dass es für je­des Problem eine Lösung gebe. Dass man ein Leben ohne Schmerzen leben könne, dass man immer jung bleibe – vorausgesetzt man habe das Geld dazu. Alles erscheint unkom­pliziert: als ob man Lebenssinn und Lebensglück im Supermarkt kaufen könne.

Unglücklicherweise erzeugt diese Kultur auch ein allzu vereinfachtes Bild von Gott und produziert einen naiven Typ von Christentum – ‘Paracetamol-Religion’ möchte ich ihn nen­nen! Diese Religion ist ein Produkt der westlichen Nachkriegs-Gesellschaft und verbreitet sich wie ein Flächenbrand auf der ganzen Erde. Diese ‘Mcdonalisation des Glaubens’ hat die Eigenschaften von Fastfood: Sie nutzt die Gesetze des Marktes (wie Konzessionsver­gabe und Schulungen), sie nimmt durch die Bindung an Kirchensteuer am Profitdenken teil, sie verbreitet sich unter Zuhilfenahme der Mechanismen der Globalisation (z.B. religi­öse Fernsehsender). Sie verspricht einfache und schnelle Lösungen! Die Katholische Vari­ante gibt es auch. Ihr Credo lautet: Gott löst alle deine Probleme! Jesus ist die Antwort! Je­sus heilt dich, beseitigt alle Zweifel, verschafft dir Erfolg im Beruf, und er hilft dir sogar, den richtigen Ehepartner zu finden! Du musst nur darum bitten. (Und wenn das Wunder nicht geschieht, dann liegt es natürlich an dir. Du hast der Kirche / dem Pfarrer nicht genug ge­spendet. Dein Glaube ist nicht stark genug. Oder deine Sünden verhindern es!)

In den nächsten acht heiligen Tagen – eigentlich mein ganzes Leben lang – möchte ich in Stille und Besinnung in der Gegenwart Gottes verweilen. Und ich werde Gott nicht bitten, meine Probleme zu lösen. Aber ich will mich der Weisheit öffnen, mein menschliches Sein so zu akzeptieren, wie es ist. Ich will mich öffnen, Sinn zu erfahren. Ich möchte nicht an einen Gott glauben, der alle meine Probleme löst. Ich glaube wohl, dass Gott meine Pro­bleme lösen kann, aber er muss es nicht tun. Nicht, weil er mich nicht liebte, sondern weil der Versuch, alle meine Probleme zu lösen, mir mein Menschsein nehmen würde. Der Gott, an den ich glaube, leidet mit mir, wenn ich leide. „Wo ist Gott? Er ist hier. – Er hängt hier an diesem Galgen“!

Die Karwoche erinnert mich auf einfache und kraftvolle Weise daran, dass es Zeiten in meinem Leben gibt, wo ich hilflos bin. Ich stehe Fragen gegenüber, auf die es keine Ant­worten gibt, treffe auf Geheimnisse, die keine Lösungen haben. Und doch gibt es Sinn und Tiefe in diesem Schweigen, in dieser Abwesenheit. Denn zu einer bestimmten Zeit in der Geschichte hat Gott unser Menschsein mit uns geteilt. Dies ist das Geheimnis der Menschwerdung. Jesus teilte mein Menschsein mit mir, Leiden und Tod eingeschlossen. Er ist nicht einfach das Opfer einer zu sühnenden Schuld. Sein Vater verlangt kein Opfer. Jesus teilt meine Begrenztheit. Er wird Opfer einer institutionalisierten Religion und macht­hungriger Politiker. Er wird ein Opfer der die Sünde einschließenden menschlichen Mög­lichkeit, wählen zu können. Er geht den Weg zum Kreuz nicht in dem Wissen aufzuerste­hen. Er geht den Weg zum Kreuz in dem Bewusstsein, dass es einen Sinn hat, den Zielen des Lebens treu zu bleiben – für ihn sind sie identisch mit dem Willen des Vaters. „Wo ist Gott? Er ist hier. – Er hängt hier an diesem Galgen“!

Die Geschichte von Elie Wiesel, mit der ich meine Gedanken begonnen habe, hat kein Ende. Im Kontext des unsagbaren Leidens im Konzentrationslager gibt es nur Schweigen! Gott ist da in diesem Leiden. Und es hat einen Sinn!

Jesu Geschichte endet nicht am Kreuz. Der Vater lässt ihn auferstehen, zu seiner Zeit. Das Leiden hat ein Ende. Das Menschsein, wie es ist, hat einen Sinn und einen Sinn hat die Hoffnung auf Transzendenz, die Hoffnung auf Überwindung. Es ist wahr, die Auferste­hung ändert das Geschehen des Kreuzes nicht. Sie umarmt das Kreuz und nimmt es mit in eine andere Wirklichkeit. Der Auferstandene Christus trägt immer noch die Wundmale, aber er lebt! In meiner eigenen Lebensgeschichte gibt es eine ähnliche Abfolge vom Lei­den hin zu einer Ganzheit. Weisheit ist häufig das Ergebnis der Verwandlung eines Trau­mas.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; aber wenn es stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12, 24).

In Kürze sage ich es noch einmal so: Das Meditieren der Pascha-Geheimnisse der Karwo­che – Leiden, Tod und Auferstehung Jesu – weckt in uns ein Empfinden für Balance. Wenn unser Blick übertrieben stark am Kreuz hängen bleibt, kommt zuviel Negativität in unser Leben, eine falsche Fixierung auf Resignation und Fatalismus. Andererseits führt ein übertriebener Enthusiasmus, der die Auferstehung ohne das Kreuz wahrnimmt, zu ei­nem naiven Optimismus, zu einer realitätsfremden Hochgestimmtheit. In der Integration der beiden Sichtweisen finden wir den Sinn unseres so gearteten Menschseins. Gott ist in meinem Tod und in meinem Auferstehen.

Sahaya G. Selvam, sdb

Lon­don, 1. April 2012

Übersetzung Alfons Nowak